Der Blaue Reiter und die Formfrage in der Kunst)
Hallo liebe Kunstfreunde,
wir haben in den letzten Sendungen schon einiges über den Expressionismus gehört, über seine Anfänge, seine Bewegungen in Frankreich und über die deutschen Brückemaler aus Dresden. Allen gemeinsam war, dass das, was in der Kunst zählt, nicht die Nachahmung der Natur ist, sondern der Ausdruck des Empfindens durch die Wahl der Farben und Linien.
War es dann nicht legitim, vielleicht auf alle Motive zu verzichten und sich ausschließlich auf die Wirkung von Farbtönen und Umrissen zu beschränken? Das Beispiel der Musik, die ohne Worte und Anspielungen auskommt, die tiefste Empfindungen ermöglicht, konnte sie nicht als Beispiel dienen? War es nicht vielleicht möglich oder sogar angebracht, mit Bildern eine Art virtuelle Musik zu erschaffen? Der erste Künstler, der Gemälde ohne ein erkennbares Objekt herstellte und zeigte, war vermutlich der Russe Wassily Kandinsky (1866-1944 ) der damals in München lebte. Er beschäftigte mit der psychologischen Wirkung der reinen Farbe, zeigte, wie ein leuchtendes Rot auf uns wie der klare durchdringende Ton einer Trompete wirken kann. Er war der Überzeugung, es sei möglich und nötig, eine neue unmittelbare geistige Kommunikation herzustellen, und das gab ihm den Mut, erste Versuche einer Farbmusik auszustellen. Damit war der Grund zur abstrakten Kunst gelegt. ( Es sei angemerkt, dass der Begriff abstrakt nicht sehr glücklich gewählt ist; man sollte doch eher von ungegenständlich oder non-figurativ sprechen. Aber der Begriff hat sich nun einmal eingebürgert, und es kommt schließlich auf das Kunstwerk selbst an und nicht auf sein Etikett.)
Es gab zu der Zeit in München zahlreiche Künstler, die verschiedene Wege einer expressiven Malerei verfolgten. Die gesamte Kunstszene dort war internationaler aufgestellt als in Dresden. Exil-Russen wie Kandinsky und Alexej von Jawlensky, Franzosen wie Robert Delaunay, der Schweizer Jean Bloé Niestlé u.a. waren wichtige Vertreter der dortigen Kunstrichtungen. Der malende Komponist Arnold Schönberg gehört dazu, Albert Bloch, und erstmals etliche Künstlerinnen wie Elisabeth Epstein, Marianne von Werefkin und vor allem Gabriele Münter. Viele von ihnen hatten sich in der 1909 gegründeten "Neue Künstlervereinigung München" zusammengefunden und eine Ausstellung organisiert. Das Publikum und die Presse reagierte mit Empörung und Ablehnung. Man erklärte die Künstler für irrsinnig, manche Werke wurden von den Betrachtern sogar angespuckt, so dass sich der Galeriebesitzer darüber beklagte, dass er "nach jeder täglichen Schließung die Bilder abtrocknen müsse". Franz Marc, der sich die Ausstellungen angesehen hatte, war empört über die ablehnende Haltung. Er schrieb an Kandinsky einen Brief, den dieser als "Balsam und voller Enthusiasmus" empfand. Als dann eines Tages die erste persönliche Begegnung zwischen Franz Marc und Kandinsky zustande kam, war ihnen sofort klar, dass sie in ihrem Denken und Wollen, in ihrem Streben nach neuen Wegen und Ausdrucksmitteln und in ihrer Bereitschaft, sich für ihre künstlerischen Belange mit ganzer Kraft einzusetzen, restlos übereinstimmten. (Zitat)“Wir verstanden uns vollkommen“. Franz Marc trat der Neuen Künstlervereinigung bei, wurde bald der dritte Vorsitzende, aber es dauerte nicht lange, bis die unterschiedlichen künstlerischen Positionen der Mitglieder nicht offen sondern über Streitigkeiten und Satzungsfragen ausgetragen wurden. Nach einer Vorstandssitzung teilte Franz Marc seinem Freund August Macke mit: “ Ich sehe wie Kandinsky voraus, dass die nächste Jury im Spätherbst eine schauderhafte Auseinandersetzung geben wird und jetzt oder das nächste Mal dann eine Spaltung oder Austritt der einen oder anderen Partei: und die Frage wird sein, welche bleibt. Wir wollen die Vereinigung nicht aufgeben, sondern unfähige Mitglieder müssen eben raus ...“ Es kam wie vorher gesagt: die Vereinsjury wollte Kandinskys "Komposition V“ nicht ausstellen; als Grund nannte man: es sei zu groß. Damit war das Maß voll. Franz Marc und Kandinsky traten aus der Vereinigung aus, Gabriele Münter, Alexej von Jawlensky und etliche andere folgten etwas später.
Dieser Abtrünnigen bildeten später das personelle Gerüst der Künstlervereinigung "der Blaue Reiter".
(Werke von links: Albert Bloch, Gabriele Münter, Marianne von Werefkin , Wladimir Kandinsky)
Alexej von Jawlensky, Robert Delaunay, Franz Marc, August Macke
August Macke, Gabriele Münter, Kasimir Malewitsch, Franz Marc
An dieser Stelle müssen wir, liebe Hörer, doch kurz auf die Entstehung des Begriffs “Blaue Reiter“ eingehen und zwei Irrtümer aufklären: Um es vorweg zu sagen: der Name "Blaue Reiter" stammt nicht von dem Gemälde, das Kandinsky 1903 gemalt hatte. Und der Blaue Reiter war keine Künstlervereinigung.
Die Geschichte war eine andere. Kandinsky und Franz Marc wollten – um künstlerische Positionen ohne Einschränkung weiter entwickeln zu können – einen Almanach herausbringen, ein Jahrbuch zur Kunst, mit Reproduktionen, Artikeln, Kritiken und einer Chronik. (Das Wort Almanach kommt vom arabischen Wort al-minha oder al manach, welches „Geschenk“ oder speziell „Neujahrsgeschenk“ bedeutet.) Alle Beiträge sollten nur von Künstlern stammen; dazu gehörten auch Literaten und Musiker; es sollte ein Spiegel voller Leben sein, eine chinesische Zeichnung sollte neben einem Rousseau stehen können, ein Picasso neben einem Volksblatt. Den Almanach herausgeben und finanzieren sollte der Piper-Verlag. Es sollte den Titel „Der Blaue Reiter“ tragen. Erfunden wurde der Name am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf, wie Kandinsky später einmal erklärte. „Das Buch hätte auch ´Die Kette´ heißen können oder anders… Aber beide liebten wir Blau. Marc liebte Pferde, ich liebte Reiter. So kam der Name von selbst. Und der Kaffee mundete uns noch besser…“ Zum zweiten Irrtum: der Blaue Reiter war keine Künstlervereinigung. Kandinsky selbst sagte einmal: “In Wirklichkeit gab es nie eine Vereinigung ´der Blaue Reiter´, auch keine Gruppe, wie es oft irrtümlich geschrieben wird. Marc und ich nahmen das, was uns richtig erschien, was wir frei wählten, ohne uns um irgendwelche Meinungen oder Wünsche zu kümmern. Wir beschlossen, unseren Blauen Reiter auf diktatorische Art zu leiten. Die Diktatoren waren selbstverständlich Franz Marc und ich."
Halten wir fest: der Blaue Reiter bestand aus avantgardistischen Künstlern, die gemeinsame Ausstellungen durchführten, in der aber die verschiedenen Ausdrucksformen gleichberechtigt sein sollten. … oder wie Kandinsky es ausdrückte: “Die größte Verschiedenheit im Äußeren wird zur größten Gleichheit im Inneren.“ Man nahm bewusst in Kauf oder förderte gar, dass es einen linken (also eher abstrakt malenden) Flügel gab und einen rechten Flügel (eher realistisch malenden). Die beiden bekannten Franzosen Delaunay und Rousseau gehörten dabei dem realistisch malenden Flügel an. Von der Teilnahme Delaunays an der ersten Ausstellung des blauen Reiters hatten sich Marc und Kandinsky eine besondere Attraktion versprochen; mit Recht, wie sich bald zeigte. Drei der vier Gemälde von ihm fanden während der ersten Ausstellungstage ihre Käufer. Ein solcher Erfolg war keinem der anderen Künstler beschieden, denn von den insgesamt 43 Bildern der 14 Maler gelangten nur vier weitere Werke zum Verkauf. – Wenn man sich dieses Ergebnis aus heutiger Sicht vor Augen hält, kann man nur den Kopf schütteln: Kandinsky zeigte dort Werke, die von der Jury der neuen Kunstvereinigung München abgelehnt worden waren und die heute Millionen kosten. Franz Marc hatte so berühmte Gemälde wie „die gelbe Kuh“, „die blauen Pferde“ und „das Reh“ ausgestellt, August Macke (siehe Bild Seiltänzer) hatte zwei Bilder beigesteuert, es gab Werke von Gabriele Münter, Niestlé, Arnold Schönberg und Albert Bloch. Die Ausstellung in München dauerte bis zum 1. Januar 1912; anschließend wurde sie in Berlin gezeigt, wo Herwarth Walden mit ihr am 12. März seine neue Ausstellungsreihe eröffnete. Werke von Paul Klee und Jawlensky kamen dazu. Weitere Ausstellungsorte waren Bremen, dass Folkwang-Museum in Hagen und der Salon Goldschmidt in Frankfurt, dort auch mit Bildern von Campendonk und anderen. An der zweiten Ausstellung in München nahmen Künstler aus vier Nationen teil, aus Deutschland, Frankreich, Russland und der Schweiz. Kandinsky und Franz Marc, Jawlensky, August Macke, Brückemaler wie Kirchner, Heckel, Max Pechstein, Paul Klee und Emil Nolde, George Braque, Pablo Picasso, Kasimir Malewitsch, um nur einige zu nennen… Kurz gesagt: es wurde das Beste jener Zeit gezeigt, was es aus heutiger Sicht je zusammen gab.
Eine weitere Ausstellung des blauen Reiters kam nicht mehr zustande. Aber viele seiner Künstler konnten im weiteren Verlauf bei Herwarth Walden ausstellen. Herwarth Walden war der Herausgeber der bekannten Zeitschrift "Der Sturm". In seiner Berliner Galerie organisierte er Ausstellungen der neuen Künstler, so zum Beispiel 1913 den " Ersten deutschen Herbstsalon“. Aber lassen wir ihn selbst zu Wort kommen: (Zitat) „Der größte Teil der Zeitgenossen ist zu stolz auf seine Augen, mit denen er nicht einmal sehen gelernt hat. Er verlangt vom Bildwerk die Wiedergabe des eigenen optischen Eindrucks, der nicht einmal sein eigener ist. Hätte er ihn, so wäre er schon künstlerisch. Künstler sein heißt, seine eigene Anschauung haben und diese eigene Anschauung gestalten zu können. Die Einheit von Anschauung und Gestaltung ist das Wesen der Kunst, ist die Kunst… ich fühle mich zur Veranstaltung dieser Ausstellung berechtigt, weil ich von dem Wert der hier vertretenen Künstler überzeugt bin. Weil ich mit den bedeutendsten Künstlern dieser neuen Bewegung persönlich befreundet bin. … Ich bin sicher, dass der unkünstlerische Teil des Publikums über diese Ausstellung und über mich lachen wird…“
Walden war ein kluger und weitsichtiger Mann mit viel Gespür für künstlerische Qualität, und er besaß den Mut, sich gerade für jene Künstler einzusetzen, die noch unbekannt waren oder ihrer unkonventionellen Malweise wegen von Publikum und Presse ignoriert bzw. verachtet wurden. Schützend stellte er sich vor sie und bot jedem die Stirn, der sich zu boshaften Äußerungen über ihre Werke hinreißen ließ. „Solche Dinge können meine Freunde und mich in ihren Bestrebungen weder beirren noch hindern.“
Es gehört anscheinend zum Schicksal der modernen Kunst, das die meisten Menschen achtlos an ihr vorübergehen, aus Unverstand ablehnen und erst nachfolgende Generationen ihren wahren Wert zu schätzen wissen. - Professor Ernst Gombrich, ein berühmter Kunsthistoriker, hat diesen Mechanismus einmal recht gut beschrieben: „Das breite Publikum lebt mit der Vorstellung, dass ein Künstler dazu da ist, Kunst zu machen, so wie ein Schuster Schuhe macht. Für die meisten Leute heißt das, dass er die Art Bilder oder Skulpturen erzeugen soll, die ihnen schon vorher als Kunst bescheinigt worden ist. Man kann dieses vage Verlangen verstehen, nur ist das leider das einzige, womit ein wirklicher Künstler nicht dienen kann. Was schon einmal getan worden ist, stellt eben keine Aufgabe mehr dar. Aber auch die Kritiker und so genannten Kenner lassen sich manchmal ein ähnliches Missverständnis zuschulden kommen. Auch sie verlangen vom Künstler, dass er Kunst erzeugen soll, auch sie denken sich unter einem Kunstwerk etwas, das einmal in ein Museum kommen soll. Die einzige Aufgabe, die sie dem Künstler stellen, ist die, etwas Neues zu bieten – wenn es nach ihnen ginge, würde jedes Kunstwerk einen neuen Stil repräsentieren, einen neuen “Ismus“. .. Viele Künstler versuchen das – sie wollen partout originell sein. „… Ihre Lösungen des Problems, wie man heute noch originell sein kann, sind oft von einem Witz und einer Brillianz, die uns Achtung abnötigt, aber auf die Dauer ist das doch keine Aufgabe, die der Mühe wert ist.… Denn genau genommen gibt es „die Kunst“ eben gar nicht. Es gibt Künstler, Männer und Frauen, die die wunderbare Gabe besitzen, Formen und Farben aufeinander abzustimmen und, was noch seltener ist, die die Charakterstärke haben, sich nie mit halben Lösungen zufriedenzugeben, sondern bereit sind, auf alle Effekthascherei und Kompromisse zu verzichten und nur der Mühsal ehrlichen Schaffens zu leben.“
Nun, Liebe Kunstfreunde, machen wir uns ein kleines Bild davon, wie die Presse und Kunstkritik damals reagierte: - die Vossische Zeitung schrieb: man sieht, es lohnt nicht den Besuch - die deutsche Tageszeitung fand, es seien bei dieser Ausstellung die Talentlosen in Reihe und Glied aufgestellt - der Vorwärts tönte: man braucht nur die Titel all dieser tollwütigen Pinseleien zu lesen, um zu wissen, dass es sich hier wirklich nicht um Malerei… handelt… Weiter ist die Rede von: …Hottentotten im Oberhemd… eine Horde farbenspritzender Brüllaffen - die Hamburger Nachrichten notierten: das ist grober Unfug… diese Summe von Lächerlichkeiten… blöde Schmierereien… man glaubt, aus der Gemäldegalerie eines Irrenhauses zu kommen
- auch der Veranstalter Walden wurde hart angegangen, z.B. vom Hamburger Fremdenblatt: Was soll man mehr bewundern: die Arroganz, mit der Herr Kandinsky beansprucht, dass man seine Pfuscherei ernst nimmt, (dieses greuliche Farbengesudel und Liniengestammel) oder den verwerflichen Sensationshunger des Kunsthändlers, der seine Räume für diesen Farben- und Formenwahnsinn hergibt? - das Berliner Tageblatt meinte: Gegen die Zumutung, diese Fatzkereien als Kunst auch nur negativ zu bewerten, gibt es keinen ernsten Protest mehr. Wir lachen…
Nun, heute lachen wir über solche Kritiken, über die Subjektivität und Unsachlichkeit. Kandinsky, der oft genug zur Zielscheibe solcher Kritik wurde, konnte aber durchaus zurückkeilen: Die Kunstkritik, so behauptete er, ist der schlimmste Feind der Kunst, und die Theoretiker, d.h. Kunsthistoriker, Kritiker etc, die von der Analyse der schon da gewesenen Formen ausgehend, ein Werk tadeln oder loben, sind die schändlichsten Irreführer, die zwischen dem Werk und dem naiven Beschauer eine Mauer bilden. Er sprach ihnen Einfühlungsvermögen und Bereitschaft zu einer objektiven Beurteilung ab und ging sogar soweit zu unterstellen, Kritiker seien sehr oft misslungene Künstler, die am Mangel eigener schöpferischer Kraft scheitern und deshalb sich berufen fühlen, die fremde schöpferische Kraft zu lenken. Und er fährt fort: … Eine der wichtigen Sorgen der heutigen Kritik der abstrakten Kunst gegenüber - ist die Sorge: wie soll man denn in dieser Kunst das Falsche vom Richtigen unterscheiden? D.h. größtenteils, wie soll man hier das Negative entdecken? Und Kandinsky fügt hinzu: „Das Verhalten dem Kunstwerk gegenüber sollte ein anderes sein als das Verhalten zu einem Pferd, welches man kaufen will: bei dem Pferd deckt eine wichtige negative Eigenschaft alle die positiven und macht es wertlos ; - beim Werk ist das Verhältnis umgekehrt: eine wichtige positive Eigenschaft deckt alle die negativen und macht es wertvoll…“ Wenn man diesen einfachen Gedanken akzeptiert, muss jede Formwahl ausschließlich dem Künstler überlassen bleiben.
Der Almanach
Noch während die Vorbereitungen zur ersten und zweiten Ausstellung liefen, hatte man sich gleichzeitig der eigentlichen Aufgabe gewidmet: der Zusammenstellung des Almanachs namens Der Blaue Reiter, den der Piper-Verlag herausgeben sollte. Ein Organ aller ernstzunehmenden Strömungen der Zeit, wie Franz Marc es ausdrückte. Man erhoffte sich viel Heilsames und Anregendes davon, auch direkt für die eigene Arbeit und zur Klärung der Ideen. Doch ehe der Blaue Reiter im Mai 1912 endlich erscheinen konnte, galt es manche Schwierigkeit zu überwinden. Fast ein Jahr war seit dem Tage vergangen, an dem Kandinsky seinem Freund Franz Marc seinem Plan unterbreitet und man sich gemeinsam an die Arbeit begeben hatte. Nicht jeder, um dessen Mitwirkung sich die beiden bemühten, ließ sich von ihrem Idealismus mitreißen, nicht jeder wollte den Pinsel gegen die Feder eintauschen und sich als Autor betätigen. Zum Glück war die Anzahl derer, die sich als Mitstreiter anschlossen, groß genug. Und natürlich gab es Schwierigkeiten und immer wieder Änderungen, dazu ein Mangel an Zeit. Die Organisationen des Ganzen war aufwändig.
Der Verleger Reinhard Piper war mit Franz Marc befreundet. Sein Verlag würde die beiden also unterstützen. Er erklärte sich nicht nur bereit, das Buch herauszubringen, sondern er steuerte auch Originalvorlagen aus seiner graphischen Sammlung sowie Fotografien bei. Er stand den Malern mit Rat und Tat zur Seite – allerdings sah er sich im Interesse seines Verlages gezwungen, gewisse Sicherheiten zu fordern, und so wurde im September 1911 vertraglich vereinbart, dass Marc und Kandinsky gemeinsam für die Deckung der Kosten zu haften hätten. Der Verleger wiederum verpflichtete sich, an die Herausgeber die Hälfte des Ladenpreises jeden verkauften Exemplars abzuführen. Zwar war das Risiko nicht gerade gering und die Frage völlig ungeklärt, wie oder wo man das Geld beschaffen sollte, doch zögerten die Künstler nicht, den Vertrag zu unterzeichnen. Wahrscheinlich vertrauten sie so sehr auf ein erfolgreiches Gelingen, dass sie vor keinem Risiko zurückschreckten. Außerdem setzten sie große Hoffnungen in den Generaldirektor der bayerischen Museen, Hugo von Tschudi, der sich schon für die Belange der Neuen Künstlervereinigung München stark engagiert hatte. (Zitat) "Ihm war es zu verdanken, dass es uns gelang, unsere Ausstellung zu machen, und ihm war es zu verdanken, dass die von der Presse geforderte `sofortige Schließung´ nicht stattfand. Und es war ebenfalls er, der in die Ausstellung kam, um dem Besitzer der Galerie, der manchmal vollständig den Kopf verlor, Mut zuzusprechen." Doch diesmal konnte Hugo von Tschudi ihnen nicht helfen, denn er war schwer erkrankt und starb wenig später. Der Düsseldorfer Kunsthändler Alfred Flechtheim und der Kunstsammler Ernst Osthaus zeigten sich zwar willig, aber nicht allzu großzügig. Mehr als 500 Mark wollte keiner von beiden investieren, und das war bei weitem zu wenig. So blieb nur die Möglichkeit, den Berliner Fabrikanten Bernhard Köhler um Hilfe zu bitten. Dieser hatte Franz Marc bereits 1910 kennengelernt, etliche Bilder gekauft und den Künstler mit einer monatlichen Zahlung von 200 Mark unterstützt. Auch jetzt erwies er sich wieder als besonders freigebiger Mäzen: erst steuerte er zweitausend Mark zu den im Vertrag geforderten Garantien in Höhe von 3000 Mark bei, später übernahm er die gesamten Kosten.
Bei der Konzeption des Almanachs kam es den Verantwortlichen nicht auf eine einseitige Darstellung Ihrer ganz persönlichen künstlerischen Absichten an, sondern auf eine breit gefächerte, verschiedene Sparten umfassende Darstellung der Kunst.
Im Mai 1912 erschien das Buch mit einer Auflage von 1200 Exemplaren; es enthielt eine Fülle an Material: 19 Textbeiträge, über 140 Reproduktionen, zum Teil in Farbe, Musikbeilagen, Kompositionen von Arnold Schönberg und Anton von Webern, chinesische und griechische Malerei, bayerische Glas- und Votivbilder, Plastiken aus Mexiko, Kamerun, Borneo, Russland, den Osterinseln; japanische Holzschnitte, ägyptische Schattenspielfiguren, Tanzmasken aus Brasilien, chinesische Masken, ein antikes Reliefs, und und und… daneben Werke von Cezanne, El Greco, Matisse, Picasso, allen Brückemalern und Malern des Blauen Reiters, Paul Gauguin, van Gogh – man kann sie nicht alle aufzählen...
Auch die Textbeiträge waren sehr vielfältig und vor allem: sie stammten allesamt (bis auf eine Ausnahme) von Künstlern! Der Maler Delacroix meinte dazu (Zitat) „Die meisten Schriften über Kunst sind von Leuten verfasst, die keine Künstler sind; und daher gibt es alle die falschen Begriffe und Urteile…“
In dem Almanach gibt es eine Abhandlung von Kandinsky mit dem Titel „ Über das Geistige in der Kunst“. Ein anderer Aufsatz trägt den Titel "Über die Formfrage". Ich bin der Meinung, dass auch heute noch jeder Künstler diesen Aufsatz einmal lesen sollte. In ihm wird dargelegt, wie und wodurch ein persönlicher Stil entsteht, was ihn ausmacht, was seine Bedingungen und Ursachen sind; warum es völlig zwecklos ist, einen fremden Stil übernehmen zu wollen oder sich – weil man heute vielleicht so malt – fremden Stilen anzupassen. (Zitat)… das wichtigste in der Formfrage ist das, ob die Form aus der inneren Notwendigkeit gewachsen ist oder nicht… " Schon bei der Auswahl und Zusammenstellung der zahlreichen Abbildungen im Almanach folgten Kandinsky und Franz Marc dem Gesetz der „inneren Notwendigkeit” ; z.B. indem sie nicht nur Werke professioneller Künstler aufnahmen, sondern auch solche aus dem Bereich der Volkskunst. Sogar Kinderzeichnungen. Diese Arbeiten waren frei von jeder Gesetzmäßigkeit und frei von Konzessionen irgendwelcher Art. Sie führten zu den Ursprüngen der Kunst zurück und schlugen damit eine Brücke zur Jetztzeit. Kandinsky kritisierte an anderer Stelle sehr scharf die Akademien. Dort würden gerade die großen und starken Talente ausgebremst. (Zitat) "ein akademisch gebildeter, mittelmäßig begabter Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er das Praktisch-Zweckmäßige erlernt… und dadurch das Hören des inneren Klanges verliert ". Solch ein Mensch liefere "eine korrekte Zeichnung, die tot" sei.
Liebe Kunstfreunde, ich kann jetzt nicht ausführlich jetzt auf die Spannungen eingehen, die es zwischen dem Verleger und den Herausgebern gab, auf die Eigenmächtigkeiten, die bei so einem Projekt nicht ausbleiben. Die Künstler trieben unnötig die Kosten in die Höhe und hielten sich nicht an die Kalkulation, der Verleger setzte nicht alle Änderungswünsche um. Es gab um das Projekt einigen Zoff, aber der Erfolg des Blauen Reiters begann sich klar abzuzeichnen. Es gab viel Arbeit, denn schon bei der Vorbereitung des zweiten Bandes wurde eine Neuauflage des ersten Bandes dringend notwendig. Dennoch war Kandinsky nicht zufrieden. Er schrieb: "Seit dem Erscheinen dieses Buches sind zwei Jahre vergangen. Eines unserer Ziele – in meinen Augen das Hauptziel – ist fast unerreicht geblieben. Es war, durch Beispiele, durch praktische Zusammenstellungen, durch theoretische Beweise zu zeigen, dass die Formfrage in der Kunst eine sekundäre ist, dass die Kunstfrage vorzüglich eine Inhaltsfrage ist.“ Nun, wenn wir uns die Entwicklung anschauen, hat Kandinsky mit seinem Pessimismus nicht Recht behalten, – schon eher Franz Marc, der in seinem Vorwort darauf hinwies: “ Alles was wird, kann auf Erden nur angefangen werden.“ Es half nichts; es war zu merken, dass das Interesse Kandinskys an der Weiterführung der Arbeit zum zweiten Buch allmählich erlahmte. Einerseits, weil er bei der Beschaffung des geeigneten Materials nach wie vor auf Schwierigkeiten stieß, die immer größere Verzögerungen brachten - andererseits, weil er befürchtete, dass durch die umfangreichen redaktionellen Aufgaben seine eigentliche künstlerische Tätigkeit auf die Dauer zu kurz kommen könnte. Franz Marc reagierte bestürzt auf die Absicht des Freundes, sich vom Folgeband des Blauen Reiters zurückzuziehen. Sie diskutierten das Für und Wider, loteten mögliche Änderungen aus, aber eigentlich handelte es sich dabei nur noch um Nachwehen; das Kapitel eines zweiten Almanachs war endgültig abgeschlossen.
Endgültig besiegelt auch durch den Tod von Franz Marc, der im Ersten Weltkrieg fiel. Ohne Mark dachte Kandinsky erst recht nicht daran, den Blauen Reiter vielleicht wieder aufleben zu lassen. (Zitat) „ Der Blaue Reiter – das waren zwei: Franz Marc und ich. Mein Freund ist tot, und allein möchte ich es nicht übernehmen…“
Liebe Kunstfreunde,
ich bin mir bewusst, dass wir in der heutigen Sendung die einzelnen Künstler und ihre Werke, besser gesagt das Besondere dieser Werke, vernachlässigt haben. Das ist bei einem kurzen Überblick unvermeidlich. Ich denke, oder hoffe, dass wir noch viele Sendungen machen werden, und dabei werden wir den Repräsentanten des deutschen Expressionismus bestimmt wieder begegnen….
Was ist Kunst? Wer ist ein Künstler? Wie betrachten wir Kunst? Was kann sie uns bieten? Wie kann sie uns bereichern? Was ist Kunstkritik? Brauchen wir sie überhaupt?
Solche Fragen sind heute stärker als sonst mit eingeflossen, aber – geht es nicht letztlich in unseren Sendungen genau darum?
Youtube-Video: Auf den Spuren des blauen Reiters (Murnau) u.a.
Hinweise auf Aufstellungen
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